Usedom - Neuss & alles braucht seine Zeit..............................................................................zurück zur Reiseseite von Jürgen Jansen

Teil I Usedom - Stettin - Berlin

Teil II: von Berlin nach Nienburg an der Saale
5 Tage, 270 km, 1.600 hm, 45 Minuten Regen
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An Radwegen benutzte ich vornehmlich die Europa Route R1 und den Elbe-Radweg




Hier war eine Streckenkarte verlinkt. Da GPSies an einen amerikanischen Investor verkauft wurde, habe ich die Karte gelöscht.



Berlin-Nienburg/Saale gefahrene Strecke

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Prenzlauer Berg – Friedrichshain – Alex – Rotes Rathaus – Dom – Hackesche Höfe – Checkpoint Charlie – Kreuzberg – Potsdamer Platz – Gendarmenmarkt – Dom – Alex - Spandauer Vorstadt – Charlottenburger Schloss - Spandau

I
m Hotel Streuhof verzichte ich aufs Frühstück und sitze lieber im Café an der Greifswalder, um den Tag entspannt nach dem herzlichen Abend anzugehen. Kreuz und quer lasse ich mich treiben und diese Stadt auf mich wirken, esse keine Currywurst, komme nicht in die Humboldtbox und muss nicht nur deshalb wirklich wieder mal zurück in dieses alte aber so lebendig neue Berlin. Vielleicht höre ich dann den Saxophonspieler am Gendarmenmarkt noch einmal, wie er my way“ extra nur für mich spielt.

Ein ehemaliger Kollege lebt jetzt in Berlin. Wir erzählen und erzählen und erzählen…………….. Schade, dass die Löhne in Berlin so niedrig sind. Er hätte mehr verdient!
Wir verabredeten uns übrigens zu unserem Treffen in der Münzstrasse am Alex. Die kurze Wartezeit verbrachte ich in einem überdachten Hauseingang bei strömenden Regen und dem Wechsel des hinteren Schlauches.

Der Tag endet bei Freunden in Spandau bei einem Grillabend. Als Beigabe gibt es feines Feuerwerk vom nahe gelegenen Maifeld. Dort findet gerade die Pyronale statt.

Spandau – Grunewald – Wannsee –  Nikolskoe - Glienicker Brücke - Potsdam – Petzow - Ferch am Schwielowsee

„Du fährst zum Spandauer Damm, bei IKEA links und immer geradeaus. Wird dir gefallen!“

Mit diesen Worten und einem feinen Frühstück verlasse ich Berlin und werde nicht enttäuscht. Die Teilnehmer am Berlinman 2012 halten die Strasse verkehrsfrei und an einer unübersichtlichen Absperrung lerne ich von der barschen und blonden Rennleitung in grün, dass die Ampel rot zeigt und ich doch bitte absteigen soll, denn das hier sei ein Gehweg. Sie hatte viel zu lehren an diesem sonnigen Tag, der auf dem Campingplatz „Neue Scheune“ in Ferch endet.

Ja, mir hat der Westen von Berlin mit seinen feinen Hügeln und noch feineren Aussichtspunkten auf die Seen ausgesprochen gut gefallen. Überrascht war ich jedoch über die Ausdehnung dieser Stadt und die Glienicker Brücke stellte ich mir aus alten Nachrichtensendungen fälschlicherweise immer als graue, vernebelte Agentenbrücke vor.

In Potsdam fühle ich mich ob Goldkuppel, Protz und Prunk eher unwohl. Es gab einfach zu viele Tote, zu viele Kriege im Namen Preußens und im Namen preußischer Tugenden, als dass ich mich heute von den Ergebnissen der Renovierungsmillionen und Abschreibungsmilliarden, angesichts leerer Kassen, begeistern lassen könnte.
Wie schlicht und schön sind dagegen die Petzower Dorfkirche auf dem Grelleberg oder die Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoe anzuschauen, die den Radfahrer mit Seeblick zum Sinnen und Verweilen einladen.

Exakt bis zur sächsisch-anhaltinischen Landesgrenze ist der R1 in Brandenburg eine wahre und asphaltierte Freude. Plötzlich und ohne Vorwarnung werde ich dann im Land der Frühaufsteher so richtig hellwach. Mir fliegen die Steine im Hohen Fläming um die Ohren und ich frage mich ernsthaft, ob hier mein Soli im Sand versickert ist. Dazu ist in Bad Belzig der R1 am Friedhof in Richtung Norden lebensgefährlich geführt, wie mir ein Mitarbeiter der Stadtreinigung bestätigt. Die Sperrung des R1 zwischen Grubo und Rabenberg kann man sich schenken, der Weg ist, trotz kleinerer Bauarbeiten, mit 50er Reifen gut befahrbar.

Irgendwie bin ich in dieser Natur heute richtig gut drauf. Mit dem heutigen Ziel Wittenberg, Lutherstadt möchte ich mein 2. Versprechen dieser Tour einlösen.
Nun, auf dem Weg in die Lutherstadt komme ich auf dem R1 vorbei an den Heilstätten in Beelitz, in denen sich Honecker ein Jahr nach der Wende aufhielt und lande vor dem ZEGG, einer etwas anderen Heilstätte in Bad Belzig. Hier, im Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung, wird mir an der Pforte freundlich meine Wasserflasche aufgefüllt und ich quatsche mit einem Bewohner, der dort seit 20 Jahren lebt. Ich nehme die Begegnung weder als Beglückung noch als Provokation auf und fahr weiter.

In Wittenberg wollte ich im Marine Camp zelten, doch das Restaurant war geschlossen und so fuhr ich in die Altstadt ins Heim vom Christlichen Verein junger Männer.

Kennt ihr diese Pensionswirtinnen, die einem bei der Ankunft erklären, welcher Schlüssel für welche Tür ist, was man darf und was nicht, wo was ist, in welcher Reihenfolge man sein Ei essen muss und welches Licht von alleine und welches nicht von alleine wieder ausgeht?
Alles Schickschnack! Fahrt mal ins CVJM Wittenberg. Innerhalb von 1 Minute lernt ihr das ganze Haus, alle Kühlschränke, Wasserkocher, Duschen, Toiletten, Stolperstufen, Bierdepots und Aufenthaltsräume mit den jeweils verbundenen Regeln kennen. Bettwäsche ordern, Gummilaken entfernen und Duschen-wieder-finden gehört dagegen eher zu den leichteren Übungen.
Ich schlendere durch Wittenberg, esse vorzüglich im „Schwarzer Baer“ und trinke noch einen Absacker mit frischer Minze, den ich mir nach 92 km nun aber wirklich verdient habe.

Ich war heute so richtig gut drauf, denn mit dem Ziel Wittenberg habe ich mein Versprechen, diese Tour fort zu setzen, eingelöst.
Sehr oft, wenn in unserer Familie vom Krieg die Rede war, erwähnte mein Vater diese Stadt und erzählte folgende Geschichte:
„Ich habe mich im Frühjahr 45 von Berlin aus in den falschen Zug gesetzt, bin irgendwie nach Süden und dann bei Wittenberg aus Angst vor den Russen durch die Elbe geschwommen. Als ich auf der anderen Seite ankam, stand dort ein Schwarzer und bot mir mit breitem Grinsen eine Lucky Strike an.“ 

„Do you wanna have a cigarette?“
waren wohl die erlösendsten Worte, die er seit langem gehört hat. Mein Vater war zu dieser Zeit gerade 18 Jahre alt geworden, er war ein guter Schwimmer und konnte sich auf seine Kraft verlassen.
In den letzten Jahren sagte er immer, er hätte vieles vergessen, könne sich an den genauen Ort nicht erinnern und wolle von dem alten Kram auch nichts mehr hören. Doch ich wollte wissen, wie es dort in Wittenberg aussieht und wollte genau an diesem Ort sein. Was wäre gewesen, wenn er nicht geschwommen und in russische Kriegsgefangenschaft gekommen wäre? Ich fühle jedenfalls schon lange eine große Dankbarkeit, dass er dies getan hat.

Durch vorbereitende Gespräche mit dem Leiter des Heimatmuseums in Wittenberg erfuhr ich, dass ich nicht der einzige Sohn sei, der auf der Suche ist und dass die Zahl der Anfragen, auch aus dem Ausland, nach den verlorenen Vätern mehr und mehr zunehme. Tausende seien damals zwischen Wittenberg und Aken über die Elbe geschwommen. Sie haben alles, vom Schinken bis zum Bollerwagen, in den Feldern zurück gelassen und selbst die Holztore aus den Scheunen gerissen, um Flosse zu bauen. Das waren nicht nur Vertriebene, Flüchtlinge und Deserteure.
Es waren auch Menschen, die im richtigen Zug saßen!

Wittenberg – Coswig – Wörlitz – Dessau - Aken

Frühstück gibt es gegenüber vom Heimatmuseum, eine Kerze nebenan, einen neuen Schlauch ein paar Meter weiter und Luther ist tot. Das Museum hat noch geschlossen und der Leiter ist in Urlaub. Also fahre ich bei schönstem Sonnenschein zur Elbe und biege auf die Feldwege zwischen Fluss und Elbe-Radweg ab.

Wo wäre ich rüber geschwommen? Wie mag das im Frühjahr 1945 hier gewesen sein? War es dunkel? Hat es geregnet? War Papa alleine? Hat er anderen geholfen? Es sind Fragen, die ich nie gestellt habe, Fragen, die nie mehr beantwortet werden.

Erst heute hocke ich hier auf diesem Kribbenkopf und schaue auf die andere Seite. Hier wäre ich ins Wasser gegangen und ans linke Ufer gekrault. Von der langsam fließenden Innenseite in die Strömung, um dann im seichten Wasser der Flussmäander auf der nächsten Innenseite wieder heraus zukrabbeln. So stelle ich mir das vor und zünde die vorletzte Kerze dieser Reise in Verbundenheit und Dankbarkeit an. Etwas Sand und ein paar Steine vom Kribbenkopf sammle ich in eine Tüte, um diese Erde mit der auf Papas Grab zu mischen.


Irgendwann in meiner Zeit fahre ich weiter und bin berührt von dieser Landschaft und dem Frieden, der über ihr liegt. Nichts stört mich mehr und ich empfinde den weiteren Weg, die Seilfähre über die Elbe mit einem letzten Blick flussaufwärts, Wörlitz mit seinem wunderbaren Park nur noch als ein großes Geschenk des Universums an Mutter Erde.

"Waren Sie schon im Bauhaus?“ „Nein, wir haben bei uns zu Hause einen Obi.“ (Originalzitat über einen Gast von der Pensionswirtin in Aken)

Das Bauhaus wurde in Weimar gegründet und zog 1925 nach Dessau um. Ob die Gründer geahnt haben, dass im nächsten Jahrhundert ihre Produkte für astronomische Summen verkauft werden und NICHT der normalen Bevölkerung zur Verfügung stehen?
In Dessau scheint sich aber mit der touristischen Vermarktung des Bauhauses eine Einnahmequelle aufzutun, die die verlorenen Arbeitsplätze aus der Textilindustrie nur zum Teil kompensieren kann. Ob man aber deshalb die Stadt in „Bauhausstadt Dessau“ umbenennen soll?
Vielleicht verlegen dann ja Unternehmen aus Wermelskirchen, Mannheim oder Bornheim zur Schaffung neuer Arbeitsplätze endlich ihren Sitz an die Elbe.

In Aken finde ich eine nette Pension mit Waschservice, wundere mich über die quadratische Straßenführung mit den viel zu breiten Strassen und lande im falschen griechischen Restaurant im dumpfen Ratskeller. Beim Retsina frage ich mich, warum noch keiner ein verchromtes Bauhaus-Fahrrad mit Elektromotor und Kreditkartenhalter für die vermarktet, die Richard Sappers Wasserkessel von Alessi schon haben, die meinen, die Ulmer Schule ginge nur bis zur 4. Klasse, und für die, die sich immer noch über die Corbusier Liege ärgern, auf der man sich nicht einmal für teuer Geld drehen kann.
Banausen!

Aken – Nienburg an der Saale

Zunächst wollte ich auf dieser Radreise mit kleinem Rückspiegel den Bahnhof in Peenemünde und das Elbufer bei Wittenberg besuchen. Doch wenn ich schon in der Nähe bin, dann will ich auch nach Nienburg, wo mein Opa und sein Fahrer in der Nacht vom 11. Oktober 1940 bei einem Bombenabwurf starben. Sie waren mit einem LKW dort. Mein Opa hatte eine kleine Spedition und er wäre in seiner Unbekümmertheit sicher auch den direkten Weg auf den anhaltinischen Feldwegen von Aken über Wulfen und Drosa zum Marktplatz nach Nienburg gefahren.

Ich wollte es mal wieder genau wissen, wollte von Zeitzeugen hören, was damals geschehen ist und ging ins Rathaus. Die stellvertretende Bürgermeisterin wusste von meinem Vorhaben, konnte mir jedoch zunächst nicht weiterhelfen. Sie stellte dann einen Kontakt mit der Leiterin des Heimatvereins her, die mich abholte und zu der Stelle führte, an der früher der Gasthof „Deutsches Haus“ stand. Heute befindet sich dort ein Neubau. Die Leiterin des Heimatvereins informierte noch die Nachbarin und weiter ging’s in das Haus vom Heimatverein. Dort konnte ich einige Photokopien vom zerstörten Haus fotografieren.
Ich kaufte die letzte Kerze der Tour und ging zur Nachbarin der ehemaligen Gaststätte. Frau F. wartete schon mit Kaffe und Kuchen auf mich und erzählte herzlich und berührt über die Nacht und den Morgen, als die Bomben fielen.
Ja, sie erinnere sich an die beiden freundlichen Neusser, die am Abend noch über die Strasse spazierten und zunächst im anderen Gasthof schlafen wollten. Aber Opa setzte sich mit den Worten durch „ne, lass man, hier ist es so schön luftig.“

Frau F. sagte mir, dass es ihr gut tut, mit einem Angehörigen zu sprechen. Sie habe lange darauf gewartet, dass sich ein Familienmitglied meldet. Sie sei zwar erst 5 Jahre alt gewesen, habe diese Nacht aber niemals vergessen können. Zu traumatisch waren die Ereignisse in der Oktobernacht. Es gab Fliegeralarm und die Empfehlung, die Schutzräume im Keller aufzusuchen. Opa und sein Fahrer ignorierten die Warnung und starben in den Trümmern an der Calbeschen Strasse.
Mit Gänsehaut und Tränen in den Augen lese ich in den Originaldokumenten noch auf 9 Seiten die minutiöse Geschichte dieser Nacht, in der noch ein Polizist starb. Es fielen übrigens 4 Bomben bei dem Angriff der englischen Flieger. Ich bin traurig und werde gleichzeitig wütend über seine Ignoranz ernsthaft vorgetragener Warnungen,
 denn das Schicksal der Hinterbliebenen ist das wirkliche Drama!

Mein Opa hinterließ eine Frau und 3 Kinder.
Meine Oma holte mit ihren beiden Schwägern ein paar Tage später den unbeschädigten LKW ab. Mit den beiden Zinksärgen auf der Pritsche fuhren sie zurück nach Neuss………………

Ich werde auf das herzlichste und mit lieben Grüßen an meine Mutter verabschiedet.

Aktuell bin ich mit Frau F. immer noch in herzlichem Kontakt. Sie hat Photos reproduzieren lassen und mir mit einer Kopie des Berichtes über die Bombennacht zugesandt. Ihre Sicht über diesen „netten und wirklich freundlichen Herrn“ hat mich meinem Opa und damit meinen Wurzeln ein ganz großes Stück näher gebracht.

Dafür und für die tolle Hilfsbereitschaft aller Beteiligten in Nienburg möchte ich mich hier, auch im Namen meiner Mutter ganz herzlich bedanken.

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